Newsletter RADAR - Ausgabe 06/2024
Sagen Sie mal...
Was machen Sie da?
Neulich im Norden: Ich fahre mit dem Energieküste-Flitzer entlang der A23. Wie ich, ist auch die Energieküste in Bewegung und zwar mit direktem Kurs in Richtung Klimaziel. Erst Ende Mai hat unsere Landesregierung mit Schleswig-Holsteins energieintensivsten Industrieunternehmen eine Realisierungsvereinbarung zur Dekarbonisierung unterzeichnet – und so den Weg zu einer klimaneutralen Industrie bis 2040 geebnet.
Mein Blick fällt auf ein Autobahnschild. „Ausfahrt 11 Lägerdorf“ - spontan fahre ich ab. Denn hier ist ein ganz neuer Partner der Energieküste und gleichzeitig einer der wichtigsten Akteure der Initiative zur CO2-Reduktion in Schleswig-Holstein ansässig: HOLCIM. An seinem traditionsreichen Standort in Lägerdorf errichtet der Zementhersteller bis zum Jahr 2028 eines der ersten klimaneutralen Zementwerke der Welt. Die beiden weiteren deutschen HOLCIM-Werke in Höver und Beckum sollen bald folgen. Ich möchte unbedingt sehen, wie der Stand der Dinge ist!
Ein Ofen, der die Welt verändert
„In der Zementproduktion auf Klimaneutralität zu setzen, ist ein enorm wichtiger Meilenstein, denn immerhin entfallen weltweit acht Prozent der CO₂-Emissionen auf die Zementindustrie“, denke ich, als das HOLCIM-Werk vor mir auftaucht. Doch was ist das? Vor der zementgrauen Umgebung zeichnet sich ein Herr in einer leuchtendgelben Jacke ab. Es ist Sven Weidner, Projektmanager Carbon2Business bei HOLCIM. Ich stoppe und steige aus. „Hallo Herr Weidner, was machen Sie denn hier? Genießen die Sie die frische Luft, die - was Ihr Werk angeht - bald gänzlich frei von CO₂-Emissionen sein soll?“ Sven Weidner lacht gut gelaunt: „Moin Frau Voss, ja, so sieht es aus! Im April haben wir hier den ersten Spatenstich für unser Innovationsprojekt ‘Carbon2Business‘ gesetzt. Und jetzt geht es richtig los mit dem Bau unseres neuen Oxyfuel-Ofens, in dem wir ab 2028 den Zementklinker mit reinem Sauerstoff brennen und anschließend das Klimagas CO₂ nahezu vollständig abscheiden können!“
Windeln und Sneaker aus CO2
Das klingt vielversprechend! Doch was passiert mit dem abgeschiedenen CO₂? Sven Weidner kennt die Antwort: „Wir werden das Klimagas, das bei der Zementherstellung unvermeidbar freigesetzt wird, nicht verpressen und einlagern, sondern im sogenannten Carbon Capture and Utilization-Verfahren nutzbar machen. Es ist schwer vorstellbar, aber CO₂ wird in Zukunft zu einem wertvollen Rohstoff werden, zum Beispiel für die Chemieindustrie. Das Bundesforschungsministerium beziffert den Bedarf an kohlenstoffbasierten Rohstoffen auf aktuell 21 Millionen Tonnen im Jahr. Diese werden derzeit noch zu rund 90 Prozent aus fossilen Quellen wie Erdgas, Erdöl oder Kohle gedeckt. Daraus entstehen dann Windeln, Sportschuhe, Autoreifen oder auch Medikamente.“
Ein ´Weiter so` kann es nicht geben
Der Abstecher nach Lägerdorf hat sich gelohnt, hier kann ich noch einiges lernen! „Dann leisten Sie also mit dem aufbereiteten CO₂ aus Ihrem klimaneutralen Zementwerk einen Beitrag dazu, diesen Bedarf auch im fossilfreien Zeitalter zu decken?“, frage ich. „Genauso ist es“, bestätigt Sven Weidner. „Kohlendioxid wird so zur Basis neuer Wertschöpfungsketten. Unsere Motivation ist die tiefe Überzeugung, dass wir uns dekarbonisieren müssen, gepaart mit der Vision, diese Verpflichtung auch kommerziell zu nutzen.“ An dieser Stelle muss ich nun doch einharken: „Aber HOLCIM stellt in Lägerdorf doch bereits seit 160 Jahren Zement her. Was hat Sie gerade jetzt dazu veranlasst, die Reißleine zu ziehen und sukzessive alle drei Werke in Deutschland klimaneutral machen zu wollen?“ Jetzt kommt Sven Weidner richtig in Fahrt: „Frau Voss, ein ´Weiter so` kann es nicht geben - das sehen wir an den Folgen der Erderwärmung! Zum anderen nimmt auch der finanzielle Druck zu, denn die Preise der Zertifikate im CO₂-Emissionshandel werden in den kommenden Jahren rasant steigen. Die Bedeutung von Klimafreundlichkeit wächst auch seitens der Investoren und Bauherren in mindestens dem gleichen Tempo.“
Das klingt einleuchtend, aber ich bin noch ein wenig skeptisch: „Fakt ist aber auch, dass die Oxyfuel-Technologie viel energieintensiver ist als die bisherige Technologie im Zementwerk Lägerdorf. Wirklich nachhaltig kann das Werk jedoch nur sein, wenn es mit grüner Energie läuft. Betreiben Sie Ihren Standort in Lägerdorf aktuell bereits komplett mit grünem Strom? Und wie soll dies ab 2028 im neuen Werk gelingen, dessen Energiebedarf noch viel höher sein wird?“, frage ich. Herr Weidner nickt bedächtig mit dem Kopf: „Das ist ein guter Einwand, den ich ausräumen kann. Schon heute decken wir in Lägerdorf 80 Prozent des Strombedarfs aus regenerativer Energie, für die Klimaneutralität der neuen Anlage streben wir 100 Prozent an. Es ist richtig, dass die Oxyfuel-Technologie mehr Energie benötigt als die bisherige Anlage. Der Standort an der Energieküste ist gerade deswegen so gut geeignet, weil hier große Mengen an grünem Strom verlässlich zur Verfügung stehen, insbesondere aus Offshore-Windkraft. Wir sind beispielsweise Gesellschafter eines Windparks in unmittelbarer Nachbarschaft des Werks. Außerdem hat sich hat sich HOLCIM über Power Purchase Agreements langfristige Grünstromlieferungen gesichert, zum Beispiel in einer Energiepartnerschaft mit Iberdrola.“
Ich bin beeindruckt. Es klingt alles wirklich gut durchdacht. „Wie möchten Sie denn das aufbereitete CO₂ verteilen? Gehen Sie davon aus, dass bis 2028 die hierfür notwendigen Pipelines, Zwischenspeicher und Umschlaghubs gebaut sein werden?“, erkundige ich mich. Herr Weidner schaut mich an: „Bis 2028 auch die Infrastruktur und die Prozesse in anderen Industrien für die Nutzung des CO₂ zu schaffen, ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, auch wenn die Bereitschaft auf allen Seiten groß ist. Die Realisierungsvereinbarung zur Dekabonisierung, die wir im Mai mit vielen Partnern unterzeichnet haben, ist für uns das gemeinsame Bekenntnis, dass wir diese und die anderen enorm großen Herausforderungen zusammen angehen!“ Ich nicke zuversichtlich und sage: „Gemeinsam können wir es an der Energieküste schaffen, da bin ich sicher! Ich danke Ihnen für das spannende Gespräch“. Dann steige ich wieder in den Flitzer der Energieküste und setze meinen Weg fort.